Das Bettelweib von Locarno – Heinrich von Kleist

gelesen von Juliane Fechner

Das Bettelweib von Locarno – Erzählung von Heinrich von Kleist (1777-1811)

Am Fuße der Alpen bei Locarno im oberen Italien befand sich ein altes, einem Marchese gehöriges Schloß, das man jetzt, wenn man vom St. Gotthard kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht: ein Schloß mit hohen und weitläufigen Zimmern, in deren einem einst auf Stroh, das man ihr unterschüttete, eine alte kranke Frau, die sich bettelnd vor der Tür eingefunden hatte, von der Hausfrau aus Mitleiden gebettet worden war.
Der Marchese, der bei der Rückkehr von der Jagd zufällig in das Zimmer trat, wo er seine Büchse abzusetzen pflegte, befahl der Frau unwillig, aus dem Winkel, in welchem sie lag, aufzustehn und sich hinter den Ofen zu verfügen. Die Frau, da sie sich erhob, glitschte mit der Krücke auf dem glatten Boden aus und beschädigte sich auf eine gefährliche Weise das Kreuz; dergestalt, daß sie zwar noch mit unsäglicher Mühe aufstand und quer, wie es ihr vorgeschrieben war, über das Zimmer ging, hinter dem Ofen aber unter Stöhnen und Ächzen niedersank und verschied…

Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist (geboren am 10. Oktober [nach eigener Angabe] 1777 in Frankfurt (Oder), Freitod am 21. November 1811 am Stolper Loch, heute Kleiner Wannsee, Berlin) war ein deutscher Dramatiker, Erzähler, Lyriker und Publizist.

 

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